Theaterdiskurs
Theater Anu ist es wichtig, seine Theaterarbeit auch theoretisch zu betrachten. Aus diesem Grund gibt es die Rubrik „Theaterdiskurs“, auf der aktuelle Überlegungen, Vorträge oder Essays von Theater Anu veröffentlichet werden.
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Vortrag Theater der Begegnungen
Wenn ich im Folgenden über ein Theater der Begegnung spreche, meine ich damit alle Anteile im Theater, die zu direkten Begegnungen zwischen Spieler und Zuschauer führen. Dies kann nur ein kurzer Blick sein oder aber eine gemeinsame Handlung, in der Zuschauer und Schauspieler in ein intensives Spiel miteinander geraten. Es ist ein Theater sozialer Interaktionen. Begegnungen können nur kurze Momente andauern oder den gesamten Verlauf der ‚Aufführung‘ bestimmen…
Stefan Behr hat den Vortrag „Theater der Begegnung“ zur Wintertagung 2011 des Bundesverbandes für Theater im Öffentlichen Raum in Leipzig gehalten.
Anu Dialog # 1-7
Theater Anu lud in den Monaten Januar und Februar seine Spielerinnen und Spieler zu einer ersten Anu Dialog-Reihe ein. Die Compagnie diskutierte an sieben Abenden wichtige Begriffe und Themen ihrer Theaterarbeit. Nach dem Einstiegsdialog „Die Durchbrechung der Vierten Wand“ folgten „Der Schauspieler im Theater der Begegnung“, „Der Zuschauer im Theater der Begegnung“, „Atmosphäre und Raum“, „Die Heldenreise und die poetische Dramaturgie“, „Die Wiederholung” und „Die Resonanz“.
Die jeweiligen Thesen und Gedanken werden hier veröffentlicht. – Für all diejenigen, die Freude an unserem Theaterdiskurs haben.
Anu Dialog # 1 | Die Durchbrechung der Vierten Wand
12. Januar 2011 | Berlin
Über das Einzigartige des Theaters und den Grund, warum wir spielen wollen
Meinungen: „Der Austausch zwischen den Menschen; den Moment ‚gemeinsam verbringen‘; das Phänomen der anderen Zeit: des Moments; das Nicht-Reproduzierbare; das bedingungslose GEBEN; die Macht, eine eigene Realität aufzubauen; ich glaube daran, dass wir die Welt verbessern können. Theater kann wie ein ins Wasser gefallener Stein sein, der seine Kreise zieht. Auch wenn diese konzentrischen Kreise für das Auge nicht mehr sichtbar sind, das Wasser ‚schwingt‘ immer noch mit. RESONANZ.“
Über die „Uneigennützigkeit“ des Theaters und den inneren Spieltrieb
ICH schlüpfe in eine Rolle und spiele eine Als-ob-Situation. Es ist die totale Lebensfreude, die totale Freiheit. Ich kann jemand sein, der ich gar nicht bin. Pure Nachahmung von allem, was ich sehe. Ich bin wieder Kind. Ich spiele. Ich verwandele mich in alles, bin eine Prinzessin, ein Helden oder auch ein Topf.
Als Kind spielen wir, ohne dass uns die Meinung der anderen interessiert. Das Bett wird zum Floß, das Regenwasser zum Hexentrank. Allein die Formel „Ich bin…“ reicht, um alles zu sein. Im Spiel Winnetou sein. Im Spiel ein Auto sein. Zweifel gibt es nicht.
Der Schauspieler hat sich dieses Kinderspiel bewahrt. Max Reinhardt schreibt in seiner „Rede über den Schauspieler“, dass der Schauspieler sich seine Kindheit in die Tasche gesteckt habe und sich damit auf und davon machte, um bis an sein Lebensende weiterzuspielen. Dennoch ist die Vereinbarung von Theater nicht, dass sich Schauspieler an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit treffen, um miteinander zu spielen. Das Schauspiel hat noch eine Vorsilbe, das „Schau(!)“. Es geht also darum, sein Spiel zur Schau zu stellen. Eine Schau will immer gesehen werden, sie verlangt also nach Zu-schauern.
Braucht Theater um Theater zu sein also Zuschauer? Ja, mindestens einen. Doch wann war der Moment, an dem das reine Kinderspiel sich verwandelte, an dem wir anfingen, es „zur Schau“ zu stellen? Wann beginnt sich das Kind nach Aufmerksamkeit zu sehnen? Ist es der Moment, wenn es zum ersten Mal Lob erfährt?
Die These lautet: Aus der Unfähigkeit der Erwachsenen, mit ihren Kindern das „reine Spiel“ zu spielen (Wettkampf-, Strategie- oder Glücksspiele sind etwas anderes) wird das Kind zu einem Schau-Spieler. Anstatt mit seinen Eltern zu spielen, spielt es ihnen etwas vor und die Eltern loben es dafür. Hat es daran Gefallen, wird es später vielleicht das Schauspielen als Beruf ergreifen. Das Kinder-Spiel wird zum Berufs-Schauspiel – hoffentlich die Tasche mit der Kindheit stets in Reichweite zum Rein-Greifen.
Das Theater wird zu einem Ort, an dem das Spiel in die Welt der Erwachsenen verbannt ist. Die Geschichte des Theaters ist von der Geschichte des Spiels nicht zu trennen.
Das Spiel ist nicht nur ins Theater verbannt worden, es ist noch dazu auf einer Bühne gefangen. Das Publikum sitzt sicher und unsichtbar im Dunkeln auf seinen Plätzen und beobachtet das Schauspiel. „Ich möchte nicht mitspielen“, signalisiert diese Teilung. „Ich schaue gerne zu, ich applaudiere auch gerne, aber bitte nicht mehr!“ Diese Theatersituation spiegelt jeden Abend aufs Neue den Tod des „reinen Kinderspiels“ wider. Die Erwachsenen taugen nur zu Bewunderern, die unfähig sind, selbst ins Spiel zu kommen. Die groß gewordenen Kinder spielen ihnen auf der Bühne etwas vor, sie stellen sich ihnen zur Schau. Das Theater ist der Ort, an dem das Spiel stirbt, denn es findet keine neuen Mitspieler. Findet es auch keine Zuschauer mehr, dann wird es eben abgesetzt.
Über eine neue Theatergeschichte
Anstatt bei den Griechen anzufangen und sich bis heute um die Dominanz des Wortes zu kümmern, sollte eine Theatergeschichte geschrieben werden, die sich an der Geschichte des einzelnen Schauspielers orientiert: Warum bin ich Schauspieler geworden? Was waren die ausschlaggebenden Momente meines Lebens, an denen ich gespürt habe, Schauspieler zu sein, Schauspieler werden zu wollen?
Dies würde eine sehr bunte Theatergeschichte werden, die den Schauspieler wieder in den Fokus des Theaters rückt. Was interessiert mich am Theater? Welche Sehnsucht stille ich, indem ich spiele? Welches Vermächtnis erfülle ich? Wenn ich meinem Kind in meiner Tasche begegnen könnte, was würde es sagen? Erzählte ich ihm, was ich heute als Erwachsener tue?
Was ist also das Einzigartige im Theater? Ist es wirklich das Drama, also der Text? Ist es wirklich die Bühne mit ihrer Bedingung einer Rampe und der durch sie verbundenen Zweiteilung des Raums? Ist es der Applaus?
Es ist die Aufführung. Im Gegensatz zur Inszenierung also das unwiederbringliche, jeden Abend neu sich vollziehende Ereignis der Aufführung. Theatergeschichtlich sind jedoch Text und Raum (geometrischer, architektonischer Raum) viel einfacher zu beschreiben, zu analysieren und zu interpretieren. Sie sind im Laufe der Zeit manifest geworden. Die Aufführung ist flüchtig. Allein Kritiken und Videoaufnahmen können sie uns bezeugen. Zwei Medien, die über ein drittes, völlig anderes Medium berichten. Ein Medium ist immer ein Übermittler. Kritik und Video haben demnach schon so viel über-mittelt, dass wir ein „Über an Mitteln“ haben und das eigentliche Mittel – das Theater – mittelmäßig und überflüssig geworden zu sein scheint.
Warum wissen wir so viel über die Passionsspiele des Mittelalters und verhältnismäßig wenig über die weltlichen Fastnachtsspiele? Es gab unzählige, dieser aktuellen, lokalen Spiele, die überall – ob auf dem Wirtshaustisch, dem Marktplatz oder einer Wiese – Bühnenbild unabhängig aufgeführt wurden. Die ersten „site specific-Aufführungen“: themen- und ortsspezifisch. Die unzähligen Auftragsarbeiten und Hausautoren sind leider nur selten überliefert. Ihre Texte wurden meist nicht bewahrt wie die Passionsgeschichte oder die vielen anderen biblischen Geschichten des geistlichen Spiels. Produziert. Gespielt. Verworfen. Die Aufführung stand im Fokus, nicht das (göttliche) Wort.
Es scheint als verursache dieses „Über an Mitteln“ in der Theatergeschichte eine Rückkopplung auf das Mittel, das Theater, selbst. Wie ist es anders zu erklären, dass heutige Theateraufführungen sich immer häufiger in Konkurrenz zu Multiplex-Kinos verstehen? Warum glaubt der Schwarze Raum, alle Medien in sich vereinigen zu müssen, sie aber nicht zu „schlucken“ um sie zu transformieren, sondern sich mit ihnen zu schmücken? Dies gilt im Besonderen für den Film. Keine Aufführung ohne Video-Projektion oder Liveübertragung aus der Garderobe, wo der erwachsen gewordene Berufsschauspieler sich nicht mehr zu einer Figur verwandelt bevor er auf die Bühne tritt, sondern sie vor laufender Kamera dekonstruiert bis von ihr nichts mehr übrig und an ihm nur noch der Beruf kleben bleibt – wie ein Gütesiegel-Aufkleber im Supermarkt. Die Tasche, die die Kindheit in sich trägt, ist in dieser Garderobe schon lange nicht mehr zu finden, versteckt im Kostümmagazin, verstaubt und vergessen.
Solange die Kritik „filmrealistische“ Inszenierungen in den Himmel hebt und Termini wie Schnitt- und Montagetechnik in ihren Theaterwortschatz immigriert, wird sich in der Garderobe des Schauspielers auch nicht viel ändern. Die Realität des Films hat die Fantasie- und Transformationsmaschine „Theater“ gestoppt.
Die Frage lautet noch einmal: Was ist das Besondere am Theater? Und damit ist nicht die Institution, der repräsentative Bau, die Tradition unseres Kulturverständnisses oder die Werte unserer bürgerlichen Gesellschaft gemeint, sondern einfach nur die Frage nach dem Alleinstellungsmerkmal des MEDIUMS Theater! Denn wenn es sich schon aller Medien bedient und glaubt, ein Hybridmedium sein zu müssen, dann sollte es sich auch endlich als ein solches begreifen.
Das Besondere also ist die Gegenwärtigkeit des Schauspielers, wie des Publikums. Der Moment wie der Schauspieler sich bewegt, wie er riecht und schwitzt, wie er sich zu den leiblichen Zuschauern verhält. Welche konzentrischen Kreise er auslöst und auf welche Resonanz er stößt, in jeder Sekunde seiner Aufführung.
Ein Schauspieler hält in der Guckkastenbühne in einer bestimmten Szene, in einem bestimmten Bühnenbild einen Spiegel hoch. Derselbe Schauspieler hält denselben Spiegel in derselben Szene hinter demselben Bühnenbild eines Filmsets hoch. Was ist der Unterschied? In dem einen Spiegel können sich die Zuschauer sehen, im andern nicht.
Das Theater als Kunstform sollte sich wieder auf sein Urelement konzentrieren, sein eigentliches Mittel: den Schauspieler. Das Theater als Medium sollte sein Gegenüber nicht vergessen: das Publikum. Denn es ist die Leiblichkeit des Zuschauers, die Theater erst entstehen lässt. Sowohl für den (Schau-)Spieler wie für das Publikum selbst. Der Schauspieler spürt sich und seine Leiblichkeit. Doch auch das Publikum muss seine physische Gegenwart spüren – es muss sich erfahren, nicht intellektuell auseinander setzen – erst dann kann sich Theater vollziehen. Und die Theatergeschichte? Sie sollte sich die Frage stellen: Wie also hat sich das Kind zur Aufführung gebracht?
Wenn sie versucht, dieser Frage nachzuspüren, dann wird der Schauspieler auch nicht mehr versucht sein, seine Tasche zu verlieren. Dann wird sich Theater verwandeln und zu seinem Wesen finden.
In diesem Theater wird über die Durchbrechung einer Vierten Wand nicht mehr gesprochen werden müssen, denn es wird sie nie gegeben haben.
Wo ist das Kind, das ich gewesen,
wohnt es in mir oder ist es fort?Pablo Neruda
Anu Dialog # 2 | Der Schauspieler im Theater der Begegnung
19. Januar 2011 | Berlin
Nachklang Spiel, Anu Dialog # 1
Neben den Theatern, dem Jahrmarkt und den Sportstadien gibt es heute den Computer als weitere Verortung des „Erwachsenen-Spiels“. Ist das Erleben eines Computerspiels mit dem anderer „gelebter“ Spiele vergleichbar? Beobachten wir doch, wie dieser virtuelle Ort des Spiels im Spieler eine starke geistige Fixierung und eine geringe leibliche Lebendigkeit auslöst. Bei Schiller heißt es: „Der Mensch ist da ganz Mensch, wo er spielt…“ (Über die ästhetische Erziehung des Menschen) – ob Schiller damit auch Computerspiele gemeint hätte?
Im Computerspiel übernimmt der Spieler verschiedene virtuelle Rollen – z.B. den Krieger oder den Rennfahrer –, das Kind in uns wird damit zum Avatar, in einer (vor-)programmierten Welt, in einer vorprogrammierten Hülle, die immer nur bestimmte Handlungsoptionen zulässt. Wird das Kind in uns dadurch lebendig oder verarmt es nur noch mehr?
Was für Folgen hat es, dass wir Erwachsenen das Kind in uns so tief eingesperrt haben? In MoraLand flüsterte das Moorts Ellib, der letzten Königin von MoraLand, zu: „Die Seele, ist das Kind, das Du einst gewesen und das Dich nie verlassen hat.“ Wenn das stimmt, stellt sich die Frage, welche Folgen dieses vernachlässigte Kind in uns für unser Leben hat…
Über den Schauspieler und sein Verhältnis zu seiner Figur
Meinungen: „Ein Prozess der DURCHDRINGUNG – der Versuch ein Stück der eigenen Haut abzulegen und die Figur in sich kommen zu lassen. ICH BIN DIE FIGUR; Ich mache die Figur zu meiner selbst; Ambivalent, packend, befreiend. Die Figur kann die Dinge ausleben, die ich mich nicht traue. Sie kann mich überraschen, aber auch ich kann sie überraschen; sie ist die ESSENZ meiner Probenarbeit.“
Wenn eine Figur LEBT, wie hoch ist dann noch der Anteil des Schauspielers in ihr? Können wir darüber eine prozentuale Angaben machen, wie beispielsweise 80 Prozent Figur, 20 Prozent ICH? Wenn der Schauspieler wirklich vorhat, Figuren hervorzubringen, die wirklich anders sind als er, die das zum Vorschein bringen können, was ihm in seinem Dasein, warum auch immer, verwehrt blieb, sollte dann nicht das Ziel sein, eine Figur entstehen zu lassen, die den Schauspieler nicht mehr braucht? Hundert Prozent Figur und Null Prozent ICH – geht das überhaupt? Wäre dies machbar – rein hypothetisch – würde der Schauspieler nicht verrückt werden?
Wenn der Schauspieler im Moment des Spiels nicht mehr existent ist, überschreiten wir damit nicht die Grenze von der Kunstform „Theater“ zu einer spirituellen Form des Seins oder aber auch zum Wahnsinn? Denken wir nur an das Phänomen der Besessenheit: Ein anderer hat von einem Menschen Besitz ergriffen – für sein Umfeld ein angstmachendes Ereignis, dem man mit Austreibungen begegnete. Darauf könnte auch der Applaus am Ende einer Theateraufführung hinweisen, denn ursprünglich wurden Klatschen und Lärm zur Geistervertreibung angewandt.
Oder ist das Verhältnis von Schauspieler und Figur eher wie ein Schlafender im Verhältnis zu dem im Traum lebenden?
Können wir im Traum vielleicht nur deshalb so mutig sein, weil wir wissen, dass es den Schlafenden gibt, der im Zweifel erwachen kann? Welcher Schauspieler kennt das nicht, dass er nach einer Vorführung „erwacht“ und nicht sagen kann, wie viel Zeit vergangen ist oder wie er beispielsweise über die eine oder andere schwierige Stelle hinweggekommen ist?
Vielleicht führt uns der Begriff der Trance weiter? Der Mensch fällt in einen schlafähnlichen, aber zugleich hoch konzentrierten Zustand. „Trance“ hat einen unpassenden, weil esoterischen, Beigeschmack und sicher ist der Begriff auch für den Zustand, in dem sich eine Figur zeigt, die den Schauspieler nicht mehr braucht, nicht ganz korrekt. Denn die Figur will nicht für sich alleine sein wie die Tänzerin, die sich autosuggestiv in Trance tanzt. Aber hat sie dies einmal erreicht, ist sie ganz bei sich, in sich, indem sie außer sich ist. Der Zuschauer ist spätestens zu diesem Zeitpunkt nebensächlich geworden. Auch wenn unsere Figur für sich alleine s e i n kann – und damit meinen wir wirklich die Figur und nicht den Schauspieler – ist ihr Hauptanliegen doch die Begegnung. Die Begegnung mit dem Publikum.
Über den Schauspieler im Theater der Begegnung
Im Theater der Begegnung ist die Figur viel größeren Risiken ausgesetzt als wenn sie Abend für Abend auf der Bühne lebendig wird. Warum? Ihr fehlt der Schutz des Schwarzen Raums und der Vierten Wand. Draußen ist sie vielen Widrigkeiten ausgesetzt, Wetter, der Bodenbeschaffenheit, der Atmosphäre des öffentlichen Raums, nicht zuletzt einem grenzüberschreitendem Publikum. Die Wahrscheinlichkeit technischer Probleme ist weitaus größer als in geschlossenen Theaterbauten. Wie weit ist es mir als Schauspieler möglich, meine Figur zu halten, wenn auf einmal der Strom ausfällt? Wenn ein Kind aus irgendwelchen Gründen an meiner Figur Gefallen gefunden hat, es herrenlos, weil elternlos, mir den ganzen Abend gegenüber steht und ständig versucht, an meinem Kostüm zu ziehen? Wann wird der Schauspieler – das ICH – und nicht die Figur, reagieren?
Gleichzeitig ist die Figur im Theater der Begegnung viel freier als es eine Bühnenfigur nur sein kann. Sie ist weder an ein starres Text- bzw. Dramenkorsett gebunden noch hat sie eine eindeutige und absolut vorgegebene Szenenreihenfolge einzuhalten, die sogenannte „Keys“ für Licht, Ton und Bühne in sich birgt. Natürlich hat sie auch ihre Geschichte zu erzählen, natürlich ist diese inszeniert, manchmal sogar streng choreographiert. Natürlich hat sie auch Spielpartner und damit Spielvereinbarung, die sie einzuhalten hat. Aber dennoch ist ihr wichtigster Spielpartner der Zuschauer – und das wissen alle Figuren im Theater der Begegnung – egal, was passiert, die Figur spielt mit ihrem BSUCHER. Wir nennen das Publikum Besucher, da es, indem es unsere Theaterinstallation betritt, in eine poetische Welt eintaucht, sie und ihre Figuren gleich einem Reisenden besucht.
Lässt der Schauspieler sich auf diese Form des Theater ein, wird er interessiert sein, eine starke Figur zu gebären und sie in sich wohnen zu lassen. Er wird gar nicht verführt sein, zwischen seinen beiden Auftritten in Akt eins und zwei eine Zigarette zu rauchen, in der Kantine Wein zu trinken, oder mit anderen Schauspielern amüsiert zu plaudern, um dann kurz vor seinem Auftritt kurz in sich zu gehen und seinen Körper, seine Stimme auf der Bühne wieder auszustellen.
Neben der Freiheit des Spiels während der Aufführung, ist die Freiheit der Figurenentwicklung für den Schauspieler ein wesentliches Merkmal für das Theater der Begegnung. Allein der Schauspieler gebiert seine Figur. Dabei gibt es keine Bestimmungen, wie sie aussehen soll, wie alt sie ist, wie sie spricht oder geht. Es gibt eine Geschichte, manchmal nur eine Idee, ein Bild, ein Gefühl, das die Figur in den Gesamtkontext der Inszenierung setzt.
Am Anfang war der Spieler und sein Körper – seine Stimme begreifen wir ebenfalls als Körper. Das ICH beginnt mit seinem Körper zu spielen, es erforscht die Möglichkeiten, „anders“ mit ihm umzugehen. In diesem Erforschen entdeckt er Formen, die ihn interessieren. Der Schauspieler beschäftigt sich mit ihnen, präzisiert sie und beginnt das Gefäß „Figur“ zu formen, das er später füllen kann. Das ist seine Arbeit und große Freiheit.
Der Regisseur ist in dieser Entstehungsphase vor allem Zuschauer. Er schaut dem Schauspieler zu und sieht. Hilft ihm, zu beginnen, hilft, wenn er nicht weiter kommt. Er sieht zu, wie die Blume wächst, während der Schauspieler Blume und Gärtner zugleich ist. Max Reinhardt schreibt: „Er ist Bildner und Bildwerk zugleich; er ist der Mensch an der äußersten Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum, und er steht mit beiden Füßen in beiden Reichen.“ (Max Reinhardt: Rede über den Schauspieler).
Sieht man einer Blume an, ob sie organisch und natürlich gewachsen ist oder zählt allein ihre Schönheit, die sie in sich trägt, wenn sie in voller Blüte steht?
Gibt es einen Unterschied zwischen einer Blume, deren Bestandteile – Stiel, Blüte, Blätter, Dornen… – einfach nur zusammen gesteckt sind und einer, die natürlich gewachsen ist?
Wir meinen ja. Ihre Aura ist eine andere, ihre Resonanz, ihre Kraft, ihre Lebendigkeit. Ist der Schauspieler zugleich Blume und Gärtner, hat sich die anfängliche Frage eins Anteils – wie viel Figur, wie viel Schauspieler in einer Figur steckt – erübrigt. Beide sind permanent vorhanden. Der Schauspieler kennt die Bewegungsabläufe, er ist vermutlich auch zur Stelle, wenn der Strom ausfällt, er unterhält sich stumm mit seiner Figur. Doch reagieren tut immer nur sie, die Figur. Auf Stromausfall, nervende Kinder und wunderschöne Spielangebote seitens unserer Besucher. Sichtbar ist allein die Figur, doch der Schauspieler ist immer latent vorhanden. Eine Art schizophrener Zustand, um noch einen weiteren Nicht-Theater-Begriff zu verwenden. Unterstützt wird dieser Zustand sicherlich durch das ständige Repetieren, durch das zyklische Spiel, dem ein eigener Anu-Dialog in dieser Reihe gewidmet wird.
Der Schauspieler geht mit der Figur eine Beziehung ein wie die Steine mit dem Wasser im Wasser im Flussbett. Sie lenken das Wasser, bilden die Bahn, in der es fließen kann. Das Wasser formt die Steine, so dass sie eine glatte und runde Oberfläche erhalten.
Der Schauspieler geht wie der Flussstein geformt aus einem langen Schauspieler-Dasein hervor. Wir alle kennen Wörter oder Sätze, die wir als ICH nie wieder sagen werden, nachdem sie eine uns sehr vertraute Figur gesprochen hat. Wir werden sie in unserem Leben immer so sprechen oder uns zumindest daran erinnert fühlen, wie sie unsere Figur gesprochen hat. Die Figur hat uns geformt, uns abgerundet. Für die Figurenarbeit ist sie wie das Wasser, das uns Schauspieler, umgibt. Solange bis wir nachgeben, uns als Stein schleifen lassen.
Über die Verantwortung der Figur
Und wenn es doch einen guten Grund dafür gäbe, den Schauspieler in seinem Spiel reagieren zu lassen und nicht seine Figur? Könnte es nicht sein, dass es Situationen gibt, die der Figur nicht würdig sind, die den Schauspieler hervortreten lassen um sie zu schützen? Dies ist sicher aufrichtig gemeint, aber es ist ein falsches Verständnis der Figur im Theater der Begegnung.
Wenn es stimmt, dass der Schauspieler frei in seiner Figurenentwicklung und vor allem in seinem Spiel ist, dann fühlt er keine Schutzgefühle. Denn diese ketten ihn an gewohnte Bilder und Konventionen.
Wenn es stimmt, dass er will, dass die Figur LEBT, dann muss er ihr die volle Verantwortung übertragen, zu sein – mit allen Konsequenzen. Dies bedeutet, dass die Figur natürlich alles, und dazu gehören auch die größten Schwierigkeiten, händeln kann.
Der Schauspieler muss ihr vertrauen. Er darf ihrer großen Stärke, ihrer Naivität vertrauen, die sie wie den Narren Parzival hinaus in die Welt schickt und durch die sie sich unbekümmert allem näher kann, jede Herausforderung annimmt, weil sie die Konsequenzen nicht kennt. Diese Figur kann mit allem umgehen, genauso wie wir Menschen uns zu allem – bekannt oder unbekannt – gegenüber verhalten. Ein Ausstieg ist auch für uns nicht möglich.
Natürlich lässt sich die Angemessenheit dieser Konsequenz hinterfragen. Wenn drei Krankenwagen auf den Kirchplatz fahren auf dem wir beispielsweise „Die große Reise“ spielen, ist in diesem Moment unsere Theateridee nebensächlich geworden. Dennoch schlagen wir vor, den Abend in der Figur zu beenden. Nur liegt hier nicht mehr die Wichtigkeit in der Begegnung mit dem Besucher, sondern im eigenen Spiel. Im Spiel der Figur mit sich selbst, ihren Requisiten und, ihrem Spielort, ihrer Umwelt.
Die These lautet: Nur wenn der Schauspieler das Spiel seiner Figur alleine erträgt, hat er die Verantwortung für sie an sie abgegeben, erreicht er den „tranceartigen Zustand“, hat er die Schizophrenie – eine Gleichzeitigkeit von Figur und latentem ICH – angenommen, ist er Spieler mit sich und seinen Besuchern geworden. Bringt er sich selbst in Schwingung, in RESONANZ. Ein ständiges Oszillieren zwischen mir als Schauspieler und der Figur; zwischen der Figur und den Besuchern; zwischen der Figur und dem Ort. Dann ist der Schauspieler zugleich Gärtner und Blume geworden und fördert sowohl die Sehnsucht seines ICHs wie das der Besucher nach Wandlung. „Denn in jedem Menschen lebt, mehr oder weniger bewusst, die Sehnsucht nach Verwandlung.“ (Max Reinhardt: Rede über den Schauspieler)
Die zweite These lautet: Nur wenn die Figur die Verantwortung für sich und ihr Dasein im Spiel übernimmt, „mit dem klaren, immer gegenwärtigen Bewusstsein, dass alles nur Spiel ist, das mit heiligem Ernst geführt wird“ (Max Reinhardt: Rede über den Schauspieler), kann sie wirklich anfangen zu leben. Dann, ist ihr alles möglich. Wie der Mensch, der am Morgen noch nicht weiß, wie der Abend ausgeht, beginnt die Figur jedes Spiel, jeden Loop von neuem. Dabei ist sie wach und neugierig, ist sie mutig, indem sie etwas riskiert, auch wenn es schief gehen kann. Ihre Naivität schützt sie und fordert sie heraus. Sie braucht das absolute Vertrauen des Schauspielers, nur dann kann sie Vertrauen schenken. Und das ist das wichtigste in einem Theater der Begegnung.
Anu Dialog # 3 | Der Zuschauer im Theater der Begegnung
26. Januar 2011 | Berlin
Über das Verhältnis von Figuren und Zuschauern
Meinung: „Zuschauer sind Partner. Auch im klassischen „Zweiraum“ mit Guckkastenbühne. Steige ich bzw. meine Figur aus, steigt der Zuschauer aus; steigt er aus, steige ich aus.“
Uns allen sind die Regeln des Verhaltens in Theateraufführungen wohl bekannt. Man lernt sie bei seinem ersten Theaterbesuch, der meist von den Eltern oder der Schule initiiert wird. Setze Dich auf Deinen Platz. Verhalte Dich still – ein kontrolliertes Lachen, Husten und Seufzen ist natürlich erlaubt. Ist die Aufführung zu Ende, applaudiere, je nach Gefallen heftiger oder verhaltener, von Jubelschreien begleitet oder Buh-Rufen unterbrochen. Erst wenn das sogenannte Publikumslicht im Saal angeht, darfst Du Dich von Deinem Sitzplatz erheben. Sollte es eine Pause geben, darfst Du durchaus den Saal verlassen und Sekt und Schnittchen im Foyer zu Dir nehmen. In wirklich dringenden Fällen ist es Dir natürlich auch gestattet, den Saal während der Aufführung zu verlassen. Sei Dir aber stets bewusst, dass dies auffallen und den Verlauf der Theateraufführung stören wird. Du sollst Dich nicht einmischen! Einmischen ist Störung, sondern zuschauen, schließlich bist Du ein Zu-Schauer und kein Zu-Störer. Deine reine Beobachtungsaufgabe ergänzt sich natürlich durch Dein sorgfältiges Zu-Hören.
Dem eindeutigen Reglement des Zuschauers steht dasjenige der Figuren auf der Bühne gegenüber. Bühne und Zuschauerraum bilden zusammen eine Art „Regelpartnerschaft“. Das Ziel dieser Partnerschaft: Die Herstellung eines besonderen Theatermoments, der durch eine scheinbar gemeinsam getroffene Theatervereinbarung entstehen kann – so die Theorie. Bekannte Schlagwörter wie „Unmittelbarkeit“ und „Gegenwärtig“, „Gemeinschaft“ und „nicht reproduzierbar“ sind bei der Beschreibung dieses Theatermoments schnell bei der Hand. Die von Frau Erika Fischer-Lichte eingeführte FEEDBACKSCHLEIFE zwischen Schauspiel auf der Bühne und Zuschauer im Saal klingt auf den ersten Blick plausibel und im theoretischen Konstrukt scheint sie auch zu funktionieren. Doch wie sieht es in der Theaterpraxis aus?
Nicht selten sitzen wir in Theateraufführungen auf unserem Platz im Dunkeln und verfolgen das Geschehen auf der Bühne als stummer Beobachter, teilnahmslos. Das, was dort oben gespielt wird, erreicht uns nicht. Wir empfinden Langeweile oder Ärgernis und sehnen uns dem Ende des Abends entgegen.
Wie viele Zuschauer steigen aus der Theaterverabredung aus? Wie viele Figuren, die dies über die „Feedbackschleife“ mitbekommen sollten, reagieren darauf und steigen ebenfalls aus? Wird nicht meist zwar die Theatervereinbarung gebrochen, ohne jedoch ihre Regelpartnerschaft zu verletzen? Die Figuren – in diesem Fall besser die Schauspieler – spielen weiter, die Zuschauer bleiben auf ihren Plätzen sitzen.
Vielleicht wird das partnerschaftliche Verhältnis zwischen Figur und Zuschauer doch nicht ganz so konsequent gelebt wie anfangs behauptet.
Über den individuellen Zuschauer und seine Aufgabe, seine Rolle, sein SPIEL
Eine Vierte Wand ist keine Mauer – das wissen wir. Es gibt durchaus Momente, an denen es einen Austausch zwischen Publikum und Schauspielern gibt. Der Schauspieler spürt die Emotionen der Zuschauer und umgekehrt. Allerdings – umso größer die räumliche Distanz zwischen beiden ist, umso weniger können sich beide erleben und meist herrscht beim Schauspieler das Gefühl einer dubiosen Masse, die sich vor ihm ausbreitet.
Schauspieler urteilen nach der Aufführung gerne: „Das Publikum war gut, das Publikum war schlecht“, dabei beziehen sie sich meist auf die Energie, die ihnen „von da unten aus dem Dunklen“ entgegen kam. Masse. Energie. Publikum. Was ist mit dem Individuum? Wird der einzelne unter den Zuschauern spürbar? Es ist wohl mehr als ein Zufall, dass wir im Zuschauer nicht zwischen Singular und Plural unterscheiden. Wie würde sich das Medium „Theater“ verändern, wenn man als Rezipient nicht die kollektive Masse begreifen würde, sondern den einzelnen Zuschauer? Ihn, seine Funktion, ja vielleicht seine „Rolle“ in dieser Theatervereinbarung einmal genauer untersuchen und beleuchten würde? Wir Schauspieler haben eine klare Aufgabe, wir sind ausgebildet, haben die nötigen Kompetenzen, das Talent; aber was ist mit dem Zuschauer? Hat er wirklich nichts, was er in unserer Theaterbegegnung einbringen kann? Warum werden seine Möglichkeiten nicht genutzt? Nicht einmal zur Kenntnis genommen. Natürlich geht es nicht darum, seine schauspielerischen Fähigkeiten herauszustellen, es geht vielmehr darum, seine Funktion in dieser Theaterbegegnung genau zu bestimmen. Wenn man Theater als Medium begreift, wenn es wirklich um einen Dialog zwischen den Figuren und ihrem Publikum gehen soll, kann der Zuschauer dann nicht mehr geben als nur ein „aktives Zuschauen und Zuhören“? Kann der Schauspieler dann nicht mehr geben als nur ein aktives Spielen auf der Bühne, weit entfern von seinen Dialogpartnern?
Die Vierte Wand zu durchbrechen beginnt mit dem Blick des Schauspielers. Er schaut einen Zuschauer an und meint ihn! Theater erreicht dann eine neue Qualität des „besonderen Theatermoments“, wenn sich der einzelne unter den Zuschauern gemeint fühlt. Der unsichtbare Zuschauer wird sichtbar. Er wird gegenwärtig. In dem Moment löst sich die Vierte Wand auf und das Theater beginnt ABENTEUER zu werden – für die Besucher wie für die Schauspieler. Alle Beteiligten scheinen plötzlich viel wacher zu sein. Es entsteht Lebendigkeit. Aus Schauspiel wird Spiel.
Bei einem Schauspielergespräch zum Thema „Kritik des Zuschauers“ in der Akademie der Künste in Berlin offenbarte Ulrich Matthes, dass er beim Spielen nie, wirklich niemals einem einzelnen Zuschauer in die Augen schaut. Er könne dies nicht, es sei ihm regelrecht peinlich. Daher ist die Inszenierung „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ von Jürgen Gosch am Deutschen Theater auch nach Jahren der Aufführung für ihn eine wirkliche Herausforderung, denn hier bleibt während der gesamten Aufführung das Publikumslicht an, etwa 700 Augenpaare schauen ihm entgegen. So viele Blicke muss ein Schauspieler erst einmal aushalten, der selbst nicht fähig ist, im Moment des Spiels nicht einem einzelnen wahrhaftig zu begegnen.
Bei einer konventionellen Aufführung – wenn das Publikumslicht also nicht an ist – kann sich der Zuschauer niemals sicher sein, ob wirklich er gemeint ist, sicher, es können Menschen gemeint sein, die so sind wie er, aber eben nicht er selbst!
Natürlich wollen wir nicht bestreiten, dass das „Gemeinschaftsgefühl“, das sich innerhalb der Zuschauer einstellen kann, wenn sie heute Abend hier diesem Ereignis beigewohnt haben, Resonanz bewirkt. Schließlich unterhalten sich viele Zuschauer über das Gesehene, die Aufführung lebt in ihnen weiter – und hier ist tatsächlich jeder einzelne gemeint. Sie alle sind Teil eines Bildes, das jedem, der nicht dabei gewesen ist, verwehrt bleibt. Theater Anu geht aber einen Schritt weiter, wir fragen uns, ob nicht auch die Zuschauer zu Malern des Bildes werden können? Zu sogenannten Koautoren des Stücks?
Wie viele Tode ist Julia über die Jahrhunderte auf der Bühne gestorben?
Und kein einziges Mal wurde sie von dem Zuschauer errettet. Warum?
Über die „Gleichberechtigung“
Vorab: Eine wirkliche Gleichberechtigung zwischen Figur und Zuschauer gibt es auch im Theater der Begegnung nicht, da der Schauspieler immer mehr weiß als seine Figur und letztendlich über dieses Wissen immer eine Art Kontrolle über das Spiel von Figur und Zuschauer haben wird, ja haben muss.
Dennoch ist das Theater der Begegnungen ein Theater auf „gleicher Augenhöhe“. Die Figur begegnet ihrem BESUCHER – wir nennen den Zuschauer Besucher, ein aktiv Suchender in unserer poetischen Welt, der ihre Figuren besucht. Die Bezeichnung „Besucher“ impliziert bereits einen Kontakt von ihm und der Figur – wie distanziert oder nahe der Besuch sich vollzieht, sei jeder Begegnung frei gestellt.
Besucher und Figur begegnen sich auf gleicher Augenhöhe. Beide haben die gleichen Möglichkeiten des Agierens. Die Figur gibt ihrem Besucher das Gefühl, gleichberechtigt zu sein. Alles beginnt mit dem Augenkontakt: „Ich sehe Dich, Du siehst mich, ich bin bereit, Dir alles zu geben, aber ich will auch alles von Dir. Ich biete Dir an mit mir zu spielen als „gleichberechtigter“ Spielpartner.“ Im Unterschied zum „Mitmachtheater“ ist dies keine Forderung sondern immer ANGEBOT. Der Besucher wird durch seine physische Aktivität zum Reisenden. Wie in einem fremden Land, entscheidet er selbst, wie nahe er den Einwohnern und Sitten und Gebräuchen kommen möchte. Es gibt kein Richtig oder Falsch, doch wer den Mut hat, die Menschen kennen zu lernen, wird reich an Reise-Erfahrung nach Hause zurückkommen. Die Bereitschaft ist alles. Doch wie wird der Besucher bereit?
Über das Vertrauen und den authentischen Zuschauer
Eine Voraussetzung – damit Spiel gelingen kann – ist, dass der Besucher dem Spieler vertraut. Sympathie und das Vertrauen, nicht bloß gestellt zu werden, hilft ihm sich für einen Eintritt ins Spiel zu entscheiden.
Dieses Vertrauen wird durch die Gesamtsituation geschaffen. Die Atmosphäre der Theaterinstallation wie die des eigenen Spielorts sind hier entscheidend wie aber vor allem der BLICK und – falls eingesetzt – die Stimme. Gerade der poetische, leise und sinnliche Ansatz der Begegnung schafft eine vertrauenserweckende Umgebung und signalisiert dem Besucher, dass er nichts Negatives zu erwarten hat.
Vertrauen schaffen heißt Verantwortung übernehmen. So wie der Schauspieler eine Verantwortung für seine Figur hat, so hat die Figur Verantwortung für ihre Besucher. Dies bedeutet, dass es im Theater der Begegnung nicht darum geht, den Besucher zum Spielen einer Rolle zu animieren. Vielmehr geht es darum, ihn seine Rollen ablegen zu lassen. Wenn wir sagen, dass wir unseren Besucher „fordern“, dann vor allem darin, er selbst zu sein. Das Theater der Begegnung möchte dem Menschen begegnen, keinem laienhaft gespielten Casper oder Helden. Es verlangt den authentischen Zuschauer als Besucher. Dieser zeigt sich dann, wenn er auf die Figur vertraut, wenn er von ihr das Gefühl bekommt: Er ist gemeint. Dann offenbart er sich seinen Spielpartner und zeigt damit auch seine Verletzlichkeit. Der Schauspieler muss sich dessen bewusst sein, er muss verstehen, welche Möglichkeiten ihm in der Begegnung seiner Figur mit den Besuchern gegeben sind, welches Potential in ihnen steckt, aber auch welche Gefahren sie in sich bergen.
Wir Spieler von Theater Anu müssen mutig sein. Wir sind aufgefordert mit unserer Freiheit zu spielen, das heißt, dass unseren Figuren alles möglich ist. Natürlich haben sie eine Funktion zu erfüllen, im Kontext der Inszenierungen, sie haben Spielaufgaben zu erfüllen und dennoch gibt es in jeder inszenierten Figur im Theater der Begegnung Freiräume, die Raum für die Figur bieten, alles sein zu können! Der Schauspieler sollte sich dessen in seiner Figurenarbeit bewusst sein. Auch wenn sein Charakter gewisse Handlungen ausschließt. Aber wenn Du Julia bist, musst Du auch bereit sein, Dich retten zu lassen.
Im Theater der Begegnung werden keine Besucher den anderen präsentiert, im Unterschied zum Mitmachtheater. Auch wenn andere Besucher zuschauen, wie ein Besucher ins Spiel gerät – in dem er einer Figur begegnet – spielt die Figur im Moment des Spiels nur mit dem einen, den sie erwählt hat. Gewinnt die Figur sein Vertrauen, werden ihn die „Zuschauer-Besucher“ nicht weiter stören. Das Erkennen des anderen ist immer der Beginn eines Spielangebots. Dabei gilt: Das Abenteuer des Besuchers ist auch immer das Abenteuer des Spielers. Theater wird so zu einem Ort des Spiels. Für wen spielen unsere Figuren? Wir glauben, für das Kind im Menschen.
Die alte Köngin Ellib besuchte ein letztes Mal das Moorts:
Eine Frage habe ich noch. Sag, was ist die Seele?”
„Wenn ich es Dir sage, wirst Du es mir nicht glauben”, erwiderte das Moorts. Ellib beharrte auf einer Antwort. „Die Seele ist das Kind, das Du einst gewesen und das Dich nie verlassen hat”, flüsterte das Moorts.Aus den Moranischen Chroniken