360 Grad Theater – was kann ich sehen?

„Das Tempelhofer Feld ist einer meiner Lieblingsorte in Berlin“, hat mir mal jemand gesagt, „weil es einer der wenigen Orte in dieser Stadt ist, wo einem die Sicht nicht versperrt wird. Man kann unfassbar weit gucken, in sämtliche Richtungen.”


Damals, als mir das gesagt wurde, habe ich selbst noch nicht in Berlin gelebt. Dennoch hat mich diese Begründung für die Auswahl des Tempelhofer Felds zum Lieblingsort in Berlin nachhaltig beeindruckt. Ich habe mich gefragt: Wenn man inmitten von Häuserschluchten lebt, wo die Blickrichtung immer vorgegeben ist, und plötzlich ist das nicht mehr so, plötzlich steht man mitten auf einer einstmaligen Landebahn eines Flughafens und kann in jede Richtung sehr weit schauen, was sieht man dann?

Ich hatte die Frage für eine lange Zeit vergessen, bin nach Berlin gezogen, durch Straßenschluchten geirrt, mein Blick wurde in rechte Winkel geknickt, nach links, nach rechts und wieder nach links. Ich habe von Brücken aus in die Ferne schauen können, vom Ufer aus quer über die Spree, ich habe mich auf dem Tempelhofer Feld im Kreis gedreht, wurde beinah von einem Skater umgenietet, habe Kinder dort Drachensteigen und Hunde Bällen hinterherjagen sehen, die als kleine Punkte über den Himmel schießen.

Was sehe ich, wenn ich eine 360-Grad-Perspektive habe? Ich hatte mir die Frage nicht nicht mehr gestellt bis zu dem Moment als ich inmitten zweier Grundschulklassen an einem Donnerstagmorgen erneut auf dem Tempelhofer Feld stand und mir ALS DIE SCHOKOLADE VOM HIMMEL FIEL von Theater ANU angesehen habe. Erst da ist mir dieselbe Frage in einem anderen Kontext wieder gekommen: Was sehe ich, wenn ich mir Theater ansehe, ohne, dass die Blickrichtung vorgegeben ist?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ALS DIE SCHOKOLADE VOM HIMMEL FIEL ist ein 360-Grad-Stück. Die Kinder rennen von Schauplatz zu Schauplatz, werden selbst Teil der Geschichte, ihre Körper schmelzen in die erzählte Welt hinein, sickern rückwärts in der Zeit und setzen sich im Nachkriegsberlin wieder zusammen. Die Theaterfiguren sind berührbar, springen um die Kinder herum und durch die Klassen hindurch, rennen mit ihnen, verschnaufen, gehen Deals mit ihnen ein.

ANU ist ein Theater, in dem es keine Sitzplätze gibt, keine vorgegebene Blickrichtung. Ich kann mich komplett im Kreis drehen und egal, wo ich hinsehe, ich bin Teil der Geschichte, ich bin innerhalb des Stücks.
Ähnlich arbeitet die Compagnie auch in dem immersiven Stück DREAMER. Hier, in einem Stück für Erwachsene, über Sexualität und Freiheit, wird den Zuschauenden ebenfalls die Möglichkeit geboten, völlig in die Diegese, also die erzählte Welt einzutreten und Teil der Vorgänge zu werden. Das szenografische Konzept verfolgt hier ebenfalls eine 360-Grad-Anordnung der Spielorte, das Publikum wird zwischen verschiedenen Bühnen hin und her bewegt, wird mitgerissen und selbst zum Akteur. Zudem will das Stück auch inhaltlich einen Blick auf Sexualität und deren Ausmaße wie Abgründe werfen. Einen Blick also, der nicht in eine Richtung geht, sondern der Sexualität uneingeschränkt als Spektrum wahrnehmen kann.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Und hier merke ich also, dass ich die Frage, die mir vor vielen Jahren gekommen ist, als mir vom Tempelhofer Feld erzählt wurde, falsch gestellt habe. Wenn ich besonders weit sehen kann, ob von Brücken, an Ufern, aus dem achten Stock eines Hauses oder auf dem Tempelhofer Feld, und wenn die Blickrichtung nicht vorgegeben ist, dann geht es nicht mehr darum, was ich sehe, sondern was ich fühle: Ich bin plötzlich Teil von etwas. Ich werde mir über meinen Bezug zur Welt bewusst. Ich bin inmitten von etwas. Ich bin nicht losgelöst von der Welt, ich bin nicht eine Richtung, ich bin mittendrin. Ich gehöre zu allem, was ich sehe, dazu. Darum geht es, und ging es wohl auch der Person, die mir vom Tempelhofer Feld erzählt hat. Erst wenn man weit sehen kann, fühlt man sich selbst wieder ein Stück mehr. Ein Effekt, den auch ANU erzeugt. Das Publikum steht nicht außen vor, es ist mittendrin, es gehört dazu.

Fotos: Dajana Lothert

Links und Infos zu den Veranstaltungen:

DREAMER
2.-5. + 9.-12. August 2023, Tempelhofer Feld
Tickets: https://theater-anu.de/anuwelten/dreamer/berlin-tempelhofer-feld/

ALS DIE SCHOKOLADE VOM HIMMEL FIEL
https://theater-anu.de/anuwelten/als-die-schokolade-vom-himmel-fiel/

 

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