INVISIBLE touch – Hier gibt es nichts zu sehen!

Unsere Arbeiten sind oft für hunderte, manchmal tausende Besucher pro Abend konzipiert. Trotzdem ist es unser Bestreben, den  Besuchern so nahe wie möglich zu sein… so nahe, dass man sie berühren kann. Nicht nur mit Emotionen oder Geschichten – nein – letztlich auch ganz physisch. Mit unserem neuen Veranstaltungsformat entwickeln wir unser Theater der Begegnung weiter.
Seit Jahren verfolgen wir die Idee, ein Projekt zu entwerfen, bei dem die Besucher nichts sehen können. Jetzt haben wir eine Umsetzung gewagt. Im Folgenden erzähle ich euch, was mich an INVISIBLE touch besonders beeindruckt.

DER ANFANG

Nur 20 Menschen können an einem Abend teilhaben. Sechs Menschen kümmern sich für drei Stunden um ihr Wohl und ermöglichen ihnen eindrückliche Erfahrungen.
Was mich dabei von Anfang an fasziniert hat, war die Idee, dass die Besucher irgendwo in Berlin abgeholt und sie von dort mit verbundenen Augen zum Spielort geführt werden. Am Ende des Abends geleiten wir sie wieder blind hinaus. Erst auf der Straße bekommen sie die Augenbinden abgenommen. So wissen die  Besucher  weder wo sie waren, noch mit wem sie den Abend verbracht haben.

EINE WELT WIE IM TRAUM

Wo aber nur innere Bilder entstehen können, formt sich eine Welt aus, die real gar nicht existiert. Ich habe mich oft gefragt, wie beim Lesen eines Buches die Gesichter der Protagonisten in meinen Kopf kommen, wie sich die Orte allein in meiner Fantasie so bildhaft ausgestalten können.
Durch die Entscheidung, dass die Besucher Ort und Mitbesucher nie zu sehen bekommen, werden die eigenen Bilderwelten auch später nicht von Anderem überlagert. Das Erlebte bleibt Traum und der Erfahrungsraum wird im besten Falle zu einem Sehnsuchtsort.

DAS SCHWEIGEN DER RICHTER

Aus eigener Erfahrung weiß ich, wenn ich blind einen Abend verbringe, stellt sich schnell das Gefühl ein, unbeobachtet zu sein, auch wenn ich natürlich weiß, dass es sehende Begleiter gibt.
Wenn ich mich aber unbeobachtet fühle, bedeutet das ja nicht, die vielzitierte „Sau heraus zu lassen“. Vielmehr erfahre ich in Blindformaten unglaubliche Gegenwärtigkeit, in der ES sich nicht entscheidet, was ich tue und lasse, sondern ICH.
Bei INVISIBLE touch ist unsere durchgängige Erfahrung, dass die Besucher durch das Gefühl unbeobachtet zu sein, nicht zum Tier „muTieren“, sondern vielmehr zu Menschen werden, die für Momente herausgelöst aus dem Strom der Geschichten, der Ge- und Verbote, sehr achtsam, ja liebevoll werden.
„Liebevoll“ ist ein merkwürdiges, fast esoterisches Wort. Aber in seinem ganzen Klang entspricht es genau dem, was ich von außen wahrnehme, wenn ich als Sehender die Menschen bei INVISIBLE touch erlebe.

DIE VERSCHWUNDENEN SCHUBLADEN

Wenn die Besucher miteinander tanzen oder sich ihre Hände berühren, machen sie eine Erfahrung, die sich für viele Menschen nur in Blindheit erleben lässt: Weder Alter, noch Geschlecht, noch Aussehen spielen in der Begegnung eine Rolle. Die Schubladen, in die wir Menschen so unglaublich schnell einsortieren können, scheinen – durch den Zauber der Augenbinde – verschwunden zu sein. Deshalb muss ich mich noch lange nicht auf jede Begegnung einlassen. Aber es hat etwas überraschend Befreiendes, wenn der innere Richter in den Hintergrund tritt und vorrangig die unmittelbare Erfahrung mich entscheiden lässt, wie weit und wohin ich mit den anderen Menschen an diesem Abend reisen möchte. Dabei lässt sich erspüren, wie sich Leben anfühlen könnte, das nicht durch Abgrenzung und Konkurrenz definiert ist, sondern vor allem von Verbundenheit und Achtsamkeit getragen wird.

Stefan Behr

Fotos: Dajana Lothert   https://dajana-lothert.com

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