Warum gehen wir ins Theater? Um uns zu verlieben!
Vorhang auf. Auftritt: Clara, das neue Gesicht von Theater ANU. Doch steht sie mit dem Rücken zum Publikum, nimmt dessen Blickrichtung ein.
Ein neues Gesicht im Theater Anu? Lässt sich das überhaupt so sagen? Es handelt sich immerhin weniger um ein Gesicht als um ein paar Augen, eine Stimme, einen Gedanken. Ihr werdet sehen. Oder hören. Oder lesen.
Ich bin Clara. Ich bin neu, und ich bin hier, um regelmäßig für euch Bericht zu erstatten, was hinter den Kulissen von ANU passiert, wer die Menschen sind, die hinter der ganzen Sache stecken, wie sie denken, was sie um- und antreibt. Ich werde über die einzelnen Vorstellungen berichten, Schauplätze, Reisen, Veränderungen, von den guten und den weniger guten Zeiten, von Aufgängen, von Applaus.
Aber erst einmal möchte ich mich vorstellen, indem ich etwas über mich preisgebe, das aber, wie ich denke, auf alle Menschen zutrifft, die ins Theater gehen: Ich will mich verlieben!
Es muss ja nicht für immer sein. Es muss nicht die große, langanhaltende, und, wenn wir ehrlich sind, auf Dauer ein bisschen anstrengend werdende Liebe sein. Nein, ich will die Aufregung, das Kitzeln in der Brust, den Rausch des kurzen, glücklichen, aufgeregten Verliebtseins. Ähnlich dem Gefühl, wenn nach einem langen Winter zum ersten Mal wieder die Sonne scheint. Und wo finde ich dieses Gefühl? Da, wo alle es finden können: im Theater.
Ist es nicht so, dass, während wir im Publikum sitzen und versuchen, die erzählte Geschichte zu entschlüsseln, den Figuren folgen, mit unseren Herzen der Katharsis entgegen jagen, ein großer Teil des Gehirns dennoch damit beschäftigt ist, die Bühne abzusuchen nach der einen Person – in die wir uns verlieben können? An der unsere Augen immer wieder hängen bleiben? Und geht es dabei dann nicht schon längst nicht mehr um die Figur, sondern um den Menschen dahinter, um dessen Schönheit, um dessen Mut, sich auf die Bühne zu stellen? Versuchen wir nicht, die Gesichtsregungen zu entdecken, die die schauspielende Person vermutlich auch hinter der Bühne nicht ablegen kann: ein Zucken im Mundwinkel, die Grübchen beim Lächeln, die Gangart, das Schieflegen des Kopfes, das Funkeln in den Augen.
Es ist das Bedürfnis, einen Blick hinter die Kulissen eines Menschen zu werfen (werfen zu dürfen!), und dort, im ganzen Chaos der Kostüme, der Masken, der Ablaufpläne, Kabel, angebissener Äpfel und halbvollen Trinkflaschen, etwas Schönes zu finden. Und während vorne das Stück vorangeht, setzen wir uns, nehmen den Apfel in die Hand und drehen ihn, betrachten ihn von allen Seiten, bemerken braune Stellen, und auch wenn sie uns etwas stören, sind wir trotzdem gerne hier. Es ist die Sehnsucht nach diesem Dahinter, die entsteht, während wir im Publikum sitzen: das Echte, das Ungespielte und Ungeschönte sehen zu dürfen. Die Darbietung zieht uns ausreichend mit, um uns glauben zu lassen, dass die eine Person auf der Bühne, die wir uns zum Verlieben ausgesucht haben, auch im echten Leben, auch hinter den Kulissen, eine herausragende Persönlichkeit hat und sei einfach super ist: Wir verlieben uns. Unsere Herzen schlagen höher, sobald die Person sich zum Publikum wendet. Wir versuchen, Blickkontakt aufzubauen, und sind uns immer mal wieder ein paar Sekunden lang sicher: Die Person hat uns angeguckt, und mit uns meine ich mich, und niemanden sonst. Es besteht eine Verbindung, ich wurde gesehen, mein wacher, schöner Blick wurde bemerkt und es wurde sich zurück verliebt, auf jeden Fall.
Denn beim Sich-Verlieben geht es natürlich auch um den tiefsitzenden Wunsch, selbst gesehen zu werden, beachtet und verstanden zu werden. Wir wollen, dass jemand auch einen Blick hinter unsere Kulissen wirft und dort alles, trotz des ganzen Chaos, einfach super findet.
Die Geschichte, die uns erzählt wird, bietet uns einen Teil davon, wir können uns identifizieren, miterleben, mitweinen, uns mitfreuen, und unsere Herzen werden geöffnet für den einen Effekt, den das Theater allen anderen Medien voraus hat: Das Sehen und gesehen werden. Die Möglichkeit, sich in diesem Moment des Zuschauens in etwas oder jemanden zu verlieben und vielleicht sogar das Gefühl zu bekommen, zurückgeliebt zu werden. Das kann nur im Theater passieren. Und wo sollte das noch besser gehen, als im Theater ANU, das Begegnungen, Berührungen und Nähe ganz besonders wichtig findet.
Ich bin also hier, um mit euch hinter die Kulissen von ANU zu schauen, nach angebissenen Äpfeln zu suchen, Puderdosen und Schminkpinsel anzuheben, probehalber Masken auf- und wieder abzusetzen, mir eine Federboa umzuwerfen und mich im Spiegel zu betrachten. Es lohnt sich also, dran zu bleiben, vielleicht verliebt ihr euch!
Clara geht von der Bühne ab, der Vorhang geht zu, wir hören ein Rumpeln, ein Räuspern, den Biss in einen Apfel.
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